01 Jul 2020
Jedes Jahr im Januar, ganz am Anfang der Saison, ist die Rennradserie World Tour in Australien zu Gast, ehe sie für die restlichen zehn Monate nach Europa weiterzieht. Wir haben uns mit Lauren Kitchen, Shara Gillow und Brodie Chapman darüber unterhalten, was es für sie bedeutet, an einem Rennen in ihrem Heimatland teilzunehmen.
Egal wer wir sind, jedes Jahr, das wir erleben, hat 12 Monate, 52 Wochen und 4 Jahreszeiten, nicht wahr? Die Zahlen bleiben immer dieselben, aber was sie konkret für uns bedeuten, kann von Person zu Person unterschiedlich sein. Für australische Profi-Rennradfahrer beispielsweise bedeuten sie etwas ganz anderes als für europäische. 95 Prozent der Fahrradrennen finden in Europa statt, mehr als 20 Flugstunden von ihrem Heimatland entfernt. Bei Australiern ruft das Wort „zu Hause“ daher ein etwas anderes Gefühl hervor, weil sie jedes Jahr nur die wenigen Monate von November bis Februar in ihrer Heimat verbringen. Sie erleben zwei Sommer pro Jahr, sind weit weg von Familie und Freunden und müssen sich an die vielen verschiedenen Kulturen in Europa anpassen.
Um mehr über diesen einzigartigen Lifestyle zu erfahren, haben wir Brodie Chapman, Shara Gillow und Lauren Kitchen gebeten, uns zu erzählen, wie es sich anfühlt. Sie haben sich netterweise dazu bereiterklärt, uns einen Einblick in ihr Leben zu geben, und – wie hätte es auch anders sein können – wir haben viel dabei gelernt!
Ist es schwer, Dreiviertel des Jahres in Europa zu verbringen?
Brodie: Es ist schwer, so weit entfernt von meiner Heimat zu sein. Meine Familie und Freunde fehlen mit natürlich sehr. Man hat nicht viel Zeit, um sich zu sehen, und kann sich nicht einfach so treffen und gemeinsam etwas unternehmen. Wenn man sich sieht, dann nur sehr kurz, und dann versucht man, alles in der kurzen Zeit unterzubringen. Das ist das Schwierigste. Aber als ich nach Europa gezogen bin, wusste ich, dass ich mir dort von Anfang an ein zu Hause aufbauen musste, um mich heimisch fühlen zu können. In meinem Fall hieß das, eine eigene Wohnung zu haben, zusammen mit meinem Partner. Jetzt freue ich mich, dorthin zurückzukehren und im Januar Zeit in Spanien zu verbringen. Zu Hause – das ist ein Gefühl, das sind bestimmte Menschen und eine gewisse Vertrautheit und Geborgenheit. Es muss nicht unbedingt ein bestimmter Ort sein, es ist vielmehr der Ort, an dem man sich zu einer bestimmten Zeit wohlfühlt.
Shara: Ich habe hier in Australien eine wirkliche große Familie, drei Brüder und drei Schwestern. Wir stehen uns alle sehr nahe. Seit sechs Jahren verbringe ich den Sommer in Europa und wir nutzen dann immer Skype und Facetime. Es ist ziemlich schwer, sie nicht zu sehen, aber ich konzentriere mich in dieser Zeit sehr stark aufs Training und auf die Rennen. Manchmal vermisse ich die australische Kultur und das australische Wetter. Auf der anderen Seite liebe ich es, verschiedene Kulturen auf der ganzen Welt zu entdecken. Ich hab ein Jahr lang in den Niederlanden gelebt und jetzt lebe ich in Frankreich.
Lauren: Es ist hart, den Großteil des Jahres in Europa zu verbringen. Als ich jünger war, war es einfacher, weil ich es nicht erwarten konnte, nach Europa zu reisen. Jetzt lebe ich schon seit über zehn Jahren so. Ich liebe und genieße es immer noch, aber die Sehnsucht nach Australien und meinem zu Hause ist mittlerweile stärker. Ich glaube, ich habe gelernt, dass ich dafür sorgen muss, genug Zeit für mich zu haben und das australische Wohlgefühl mit nach Europa zu nehmen. Und wenn ich dann wieder in Australien bin, meine Zeit zu genießen und meine Batterien für die nächste Saison wieder aufzuladen.
Was fehlt dir an zu Hause am meisten?
Brodie: Wenn ich in Europa bin, vermisse ich das warme und feuchte tropische Klima. Ich bin in Brisbane aufgewachsen, wo es das ganze Jahr über ziemlich warm ist und es im Sommer jeden Abend diese unglaublichen Gewitter gibt. Es ist extrem heiß und plötzlich zieht dann ein beeindruckendes Gewitter auf. Ich habe schon lange keins mehr in dieser Art erlebt. Die Gewitter fehlen mir wirklich, genauso wie die australische Kaffeekultur und die australische Küche. Ich finde, in Australien gibt es so viele verschiedene tolle Gerichte, insbesondere die mit asiatischem Einfluss, und wirklich guten Kaffee. Außerdem fehlt mir die Fahrradkultur. In Melbourne und Sydney gibt es eine ausgeprägte Fahrradkultur und man kann jeden Tag mit irgendjemandem eine Runde drehen oder eine Gruppentour machen – es stehen einem echt viele Möglichkeiten offen!
Shara: Ich liebe die Strände. Ich lebe 25 km entfernt vom Noosa Beach und der Sunshine Coast, was einfach fantastisch ist. Das fehlt mir wirklich, wenn ich in Europa bin, ebenso wie meine Familie und meine Freunde. Wenn ich in Australien bin, fahre ich gerne ans Meer zum Schwimmen und Surfen. Am Strand zu sein gehört für mich im Sommer einfach dazu. Die Zeit von November bis Dezember ist absolut großartig. Ich trainiere immer unglaublich viel bei richtig gutem Wetter und dann fahre ich noch eine Runde an den Strand und gehe schwimmen oder surfen.
Lauren: Ich komme aus einer ländlichen Region in Australien, nicht aus einer Stadt. Wenn ich hier trainieren gehe, begegnen mir auf einer Stecke von 50 Kilometern oft nur zwei Autos. Ich mag es sehr, mich so abgeschieden zu fühlen, allein in der Weite Australiens. Dieses Gefühl kommt in Europa nur schwer auf. Natürlich vermisse ich auch meine Familie und die Kultur meiner Heimat. In einem Café zu frühstücken ist bei uns etwas ganz Normales und in Europa gibt es das einfach nicht so oft.
Wie fühlt es sich an, wieder zu Hause zu sein?
Brodie: Es ist echt schön, zu Hause zu sein. Immer wenn ich hier bin, treffe ich mich mit meiner Familie und meinen engsten Freunden, die ich lange nicht gesehen habe. Es fühlt sich einfach gut an, an vertrauten Orten zu sein. Ich besuche die Orte, zu denen ich früher gependelt bin, und ich freue mich riesig auf den langen Sommer.
Shara: Wenn ich wieder hier bin, bin ich total aufgeregt und bereit, meine Batterien aufzuladen. Normalerweise habe ich auch ein bisschen Zeit abseits des Bikes, die ich mit Freunden und Familie verbringen kann. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich an einem so wunderschönen tropischen Ort mit fantastischen Stränden leben kann. Es fühlt sich an wie Urlaub, aber man kann auch fünf Stunden bei tollem Wetter trainieren und dann an den Strand gehen. Für mich ist es außerdem etwas sehr Besonderes, dass meine Familie vor Ort ist und meine Freunde mich unterstützen können. Wieder australischen Boden unter den Füßen zu haben, fühlt sich einzigartig und außergewöhnlich an.
Lauren: Ich liebe es, nach Hause zurückzukommen, zu meiner Familie und meinen Eltern. Seit meinem Highschool-Abschluss bin ich jedes Jahr nach Europa gereist, deshalb kehre ich jeden Sommer in meine Heimatstadt zurück. Vor etwa zwei Jahren sind meine Eltern weggezogen und als ich dann das nächste Mal wieder hier war, war es ein richtiger Schock, weil sich alles verändert hatte. Gleichzeitig war es unheimlich aufregend, weil ich so einen neuen Ort kennenlernen konnte, als ich meine Eltern besucht habe. Es ist immer toll, nach Hause zu kommen, es bringt mich jedes Mal auf ganz andere, neue Gedanken. Die Vorsaison ist hier ziemlich anders als in Europa, ich kann draußen im Warmen trainieren.
Was ist deiner Meinung nach das größte Klischee in Bezug auf Australien?
Brodie: Ausländer denken, dass es hier überall Spinnen gibt. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Schlange in einer australischen Stadt gesehen habe. Einige glauben auch, dass ihnen, sobald sie aus dem Flieger steigen, eine Python über den Weg läuft. Das ist natürlich Quatsch, man muss schon ins Buschland gehen, um wilde Tiere wie Pythons zu sehen.
Shara: Natürlich denken viele Ausländer, dass Australien einfach viel zu weit weg ist. Sie denken, dass es hier, sobald sie aus dem Flieger gestiegen sind, nur so vor Schlangen, Haien, Spinnen und Krokodilen wimmelt. Es gibt ein paar ziemlich gefährliche Tiere hier bei uns, dass stimmt schon, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich werde manchmal gefragt, wie ich überhaupt in Australien leben kann, aber für uns ist das total normal.
Lauren: Ich habe einmal beim Training Koalas gesehen und habe einigen meiner Teamkollegen ein Bild geschickt. Ihre Antwort war: „Oh, wie süß, die würde ich gerne mal knuddeln!“ Die Nachbarn meiner Eltern mussten allerdings vor kurzem operiert werden, weil sie von Koalas angegriffen und von ihnen an den Armen schwer verletzt wurden. Dabei sind die Nachbarn Ärzte und Rettungssanitäter, die sich eigentlich mit so etwas auskennen. Ausländer denken, dass Koalas putzig und süß sind, aber sie sind ziemlich aggressiv und habe scharfe Klauen. Es sind also richtig gefährliche Tiere!
Was macht ihr in eurer Freizeit, wenn ihr in Australien seid?
Brodie: In meiner Freizeit bin ich ziemlich eindimensional unterwegs, ich fahre gerne Rennrad und Mountainbike. Ich fahre unheimlich viel Mountainbike im Buschland. In Queensland habe ich sehr oft im Dunkeln trainiert, weil es tagsüber so heiß war. Im Dunkeln Trails zu fahren, war außerdem viel aufregender. Und ich liebe es, an den Strand zu gehen. Ich hatte wirklich Glück, dass ich eine Weile in Sydney leben konnte, wo es viele fantastische Strände gibt. Außerdem liebe ich es, einfach in ein Café zu gehen oder in einem Rockpool zu schwimmen und ganz allgemein in natürlichen Gewässern ... Baden gehen ist etwas, was man überall in Australien machen kann.
Shara: Wenn ich wieder hier bin, verbringe ich zwischen den Trainingseinheiten viel Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden. Es ist die einzige Zeit im Jahr, in der ich mehrere Wochen am Stück an einem Ort verbringe und nicht in ein Flugzeug steigen muss. Das finde ich echt toll und sehr besonders. Ich gehe gerne surfen und verbringe Zeit am Strand mit meiner Familie. Außerdem trainiere ich natürlich, gehe schwimmen und ins Fitnessstudio. Oktober und November sind sehr wichtige Monate, in denen viel Crosstraining, Kraft- und Schwimmeinheiten, Laufen und eine ganze Menge Kilometer auf dem Rad anstehen.
Lauren: Ich habe gerade einen Abschluss gemacht, deshalb habe ich jetzt ein bisschen mehr Zeit als vorher. In der letzten Wochen habe ich viel Zeit in Cafés verbracht, habe meinen Eltern beim Einrichten ihrer neuen Wohnung geholfen ... So verbringe ich den Großteil meiner Freizeit im Sommer. Ich gehe viel Kaffee trinken, teste neue Cafés und verbringe Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden.
Was zeichnet den „Aussi Lifestyle“, die australische Lebensart aus?
Brodie: Die Kaffeekultur, viel Zeit draußen und mit Freunden zu verbringen. Das klingt total stereotyp, aber so ist es tatsächlich! Wahrscheinlich gibt es diese Klischees einfach, weil sie in gewisser Weise auch stimmen.
Shara: Der australische Lifestyle ist ziemlich entspannt, wir „Aussis“ sind sehr locker.
Lauren: „Zur australischen Lebensart gehören unser Outdoor-Lifestyle, unsere Kaffeekultur und eine besondere kulturelle Dynamik. Aktuell kämpfen wir gegen viele Buschbrände. Australien verändert sich einfach ständig und ist auf jeden Fall sehr dynamisch.“
Vielen Dank an unsere drei Aussi-Fahrerinnen für ihre Zeit!
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